Warum Medien mehr Vielfalt zum Überleben brauchen

Der Absatz sinkt, die Reichweite schwindet, was dafür wächst, ist die Vertrauenskrise und die Konkurrenz durch Social Media und eine Überfülle an Angeboten im Netz. Das sind nur einige der Herausforderungen, denen sich Medien heutzutage ausgesetzt sehen. Und jetzt sollen sich Medienhäuser auch noch um diverses Personal und irgendwelche Nischenthemen kümmern? Ja, genau. Gerade jetzt. Bei Diversity geht es nicht nur um Chancengerechtigkeit oder gesellschaftliche Repräsentation. Mehr Vielfalt bringt neue Zielgruppen, neue Kundschaft und vor allem einen besseren, erfolgreicheren Journalismus. Es geht dabei um Vertrauen, um Glaubwürdigkeit und vieles mehr, was sich viele deutsche Medien seit Jahren schon entgehen lassen.  

 

Neue Zielgruppen

Viele Medienbetriebe scheinen noch anzunehmen, Menschen mit Einwanderungsgeschichte seien für sie keine lohnenswerte Zielgruppe. Doch Studien belegen das Gegenteil. Auch Migrant:innen und ihre Nachkommen holen sich ihre Informationen überwiegend in deutschsprachigen Medien und lassen sich von deutschem Fernsehen unterhalten. Untersuchungen zeigen aber auch: Menschen, die nicht typisch deutsch aussehen oder heißen, finden sich in den Medien oft nicht wieder und empfinden die Berichterstattung mitunter als stereotyp und diskriminierend. 

Positiv betrachtet heißt das: Für Medienhäuser bietet sich die Chance, Menschen aus Einwandererfamilien als neue  Zielgruppe zu erkennen und an sich zu binden. Zum Beispiel indem in deutschen Redaktionen mehr Journalist:innen aus Einwandererfamilien arbeiten,  die neue Themen aus (post)migrantischen Communitys in ihre Redaktionen tragen. Oder indem bei Vox-Pops immer darauf geachtet wird, einen Querschnitt  der Gesellschaft zu zeigen. Oder indem Medien bei der Bebilderung darauf achten, das gesamte Bild ihrer Region zu zeigen. Oder, oder, oder...  

Es gibt mehr als 21 Millionen gute Gründe in Deutschland, warum Medien es sich nicht leisten können, Publikum mit Einwanderungsgeschichte außen vor zu lassen. Denn nur Menschen, die ihre Lebenswelt in der Berichterstattung wiederfinden, sind auch bereit, dafür zu bezahlen.

Neue Geschichten

Männlich, weiß, gutverdienend und akademisch gebildet. So sehen nach wie vor die meisten Führungskräfte in den der Redaktionen aus und mit ihnen auch der journalistische Blick auf die Welt. Dabei hat die Realität so viel mehr spannende Themen, Geschichten, Perspektiven zu bieten, als die Lebenswirklichkeit dieser Führungsetagen hergeben kann. Um sie zu entdecken, braucht es Journalist:innen, die den Blick dafür haben: Eine Rollstuhlfahrerin kann ganz andere Geschichten über kommunale Verkehrsplanung erzählen als der Kollege, der mit dem SUV zur Arbeit kommt. Zum Bedingungslosen Grundeinkommen hat ein Kollege, dessen Eltern auf Sozialhilfeleistungen angewiesen waren, vermutlich einen ganz anderen Zugang, als die Kollegin aus einer Ärzte-Familie. Türkeideutsche, Russlanddeutsche, Afrodeutsche, Menschen aus Ex-Jugoslawien, Jüd:innen, Muslim:innen und so weiter bieten einen unschätzbaren Pool an neuen Perspektiven und Themen. Es sind Geschichten für die Medien einer pluralen Gesellschaft. Ihre Storys sind nicht nur Nische. Aber selbst wenn sie es wären, wieviele Zuschauer:innen gucken im Fernsehen die Börsenberichte? Es gibt sie trotzdem. 

Wichtige Kompetenzen

Mal ehrlich, in wie vielen Häusern muss ein fehleranfälliges Übersetzungsprogramm Recherchen auf Türkisch, Russisch oder Arabisch übernehmen, weil es keine:n Muttersprachler:in in der Redaktion gibt? Wie oft fällt es niemandem auf, wenn peinlich pauschalisierend über Minderheiten berichtet wird oder die Talkshow nur mit weißen Deutschen besetzt ist? Und wer in der Redaktion merkt eigentlich noch, dass die große Mehrheit der Journalist:innen Hochdeutsch mit Akademiker-Slang spricht? Seien wir ehrlich: Viele Medieninhalte sind schwer verständlich für Leute, die nicht studiert haben. Die Mehrheit des Publikums hat das aber nicht nicht. Wer migrantische Communities, queere Subkulturen oder „die Straße“ verstehen will, sollte aufhören, sie aus seiner Redaktion auszuschließen.

Vielfalt macht stark

Ein Evergreen der Managementliteratur lautet: Heterogen zusammengesetzte Team liefern bessere Ergebnisse. Das gilt auch für Medienunternehmen. Vielfältige Teams...

  • profitieren von unterschiedlichen Perspektiven, Erfahrungen und Fähigkeiten, 
  • betrachten aus unterschiedlichen und ungewohnten Blickwinkeln, 
  • hinterfragen einander und verringern so das Risiko von Fehlern, 
  • sind im Durchschnitt profitabler als homogen zusammengesetzte Gruppen von Mitarbeiter:innen.

Mehr Glaubwürdigkeit

Ein Evergreen der Managementliteratur lautet: Heterogen zusammengesetzte Team liefern bessere Ergebnisse. Das gilt auch für Medienunternehmen. Vielfältige Teams...

  • profitieren von unterschiedlichen Perspektiven, Erfahrungen und Fähigkeiten, 
  • betrachten aus unterschiedlichen und ungewohnten Blickwinkeln, 
  • hinterfragen einander und verringern so das Risiko von Fehlern, 
  • sind im Durchschnitt profitabler als homogen zusammengesetzte Gruppen von Mitarbeiter:innen.

Image-Gewinn

Mediale Eintönigkeit wird zu einer Bedrohung fürs Image. Die Zeiten, in denen Männer im „Internationalen Frühschoppen“ unter sich das Recht auf Abtreibung ausdiskutieren konnten und auf RTL allein „Aprikose“, „Erdbeere“ und „Kirsche“ für den Frauenanteil sorgten, sind zum Glück lange vorbei. Die Zeiten, in denen weiße Menschen ohne Beteiligung von Schwarzen Menschen und People of Color (BPoC) über Rassismus diskutieren konnten, aber auch. Medien, die diese gesellschaftliche Entwicklung ignorieren, bekommen es heute in Sozialen Medien und anderswo schnell mit einer einer zunehmend kritischen Öffentlichkeit zu tun. Wer nicht mit der Zeit geht, landet entweder im Shitstorm oder – viel wichtiger – auch bald in der Bedeutungslosigkeit.

Eine Zukunft

Der gesellschaftliche Wandel lässt sich nicht ignorieren. Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland lag im Jahr 2019 bei 26 Prozent. Bei Kindern unter sechs Jahren stammen schon heute 40 Prozent aus Einwandererfamilien und in den ersten deutschen Städten stellt die vermeintliche Minderheit inzwischen die Mehrheit. Eine immer diversere Gesellschaft stellt die Medienwelt aber vor eine grundlegende Frage: Nehmen wir jetzt die nötigen Ressourcen in die Hand, um Schritt zu halten oder warten wir ab, bis wir den Anschluss an die Lebenswirklichkeit verpasst haben? Medien, die jetzt nicht handeln, verabschieden sich bereits heute von der Zukunft. Auch von ihrer eigenen. Zum Glück erkennen immer mehr deutsche Medienhäuser, wie wichtig das Thema ist und wollen internationalen Standards entsprechen. Sie versuchen ihre Redaktionen für Menschen unterschiedlichster Lebenserfahrungen zu öffnen und bringen Formate für neue Zielgruppen auf den Weg.

Unsere Demokratie

Unsere Gesellschaft braucht Journalist:innen, die die Menschen informieren und die politische Meinungsbildung ermöglichen. Je homogener die Redaktionsteams sind, desto schwerer dürfte es fallen, bei dieser Arbeit vielfältige Perspektiven einzubringen und Themen der Gesellschaft vorurteilsfrei aufzugreifen. Je diverser die Redaktionsteams sind, desto besser gelingt das. Redaktionen, die zum Beispiel nur aus weißen Männern in derselben Altersgruppe bestehen, bekommen sehr viele Entwicklungen nicht mit. Und so, wie wir uns heute keine reinen Männerredaktionen mehr vorstellen können, sollten wir uns auch keine weißen Redaktionen mehr vorstellen können. Gerade aufgrund des besonderen, verfassungsrechtlichen Auftrags der Medien ist die Frage der Zugangsgerechtigkeit und der Repräsentation aller Bevölkerungsgruppen im Journalismus auch eine Frage der Demokratie. Das gilt besonders für öffentlich-rechtliche Medien. Aber nicht nur für sie.

Weitere Beiträge aus dem NdM-Diversity-Guide

Irrtümer und Denkfehler

Um erfolgreich im Journalismus Fuß zu fassen, müssen neue Medienmacher:innen erst jede Menge Vorurteile überwinden. Hier haben wir die häufigsten aufgeführt. 

Interview mit Miranda Wayland

In Sachen Vielfalt gilt die BBC weltweit als Vorreiter. Miranda Wayland, "Head of Creative Diversity" bei der BBC, erzählt, wie die Rundfunkanstalt das geschafft hat.