Eine Recherche über (fehlende) Vielfalt in deutschen Redaktionen

Deutschland ist ein Einwanderungsland? Nicht in den Chefetagen deutscher Massenmedien. Das ist die ernüchternde Erkenntnis einer Untersuchung, die die Neuen deutschen Medienmacher*innen im Jahr 2020 unter dem Namen "Viel Wille, kein Weg" veröffentlicht haben. Zum ersten Mal haben wir erhoben, wie viele Chefredakteurinnen und Chefredakteure hierzulande einen Migrationshintergrund haben.

Die wichtigsten Ergebnisse:

  • 118 von 126 befragten Chefredakteur:innen der reichweitenstärksten Medien (94 Prozent) sind Deutsche ohne Migrationshintergrund.
  • Unter den sechs Chefs und zwei Chefinnen, die mindestens einen nicht-deutschen Elternteil haben, stammt die Hälfte aus Nachbarländern Deutschlands und die andere Hälfte aus EU-Mitgliedsstaaten.
  • Besonders diskriminierte Gruppen sind überhaupt nicht vertreten – kein Chefredakteur und keine Chefredakteurin, der oder die schwarz ist, aus einer muslimisch geprägten Familie oder einer den größten Einwanderergruppen (türkisch, polnisch, russischsprachig) stammt.

Keine People of Colour in deutschen Chefredaktionen

Zum ersten Mal haben wir den Migrationshintergrund in deutschen Chefredaktionen erhoben. Einerseits, weil das in Deutschland bisher noch nie untersucht wurde. Und andererseits, weil die Chef:innen naturgemäß eine wichtige Funktion innehaben. Sie können die Öffnung zu mehr Diversität vorantreiben, selbst wenn nicht alle in der Redaktion dieses Ziel unterstützen. Diese Erfahrungen haben Medienunternehmen in der Vergangenheit in Bezug auf die Gleichstellung von Frauen gemacht.

Die Rücklaufquote war ungewöhnlich hoch: 90 Befragte haben geantwortet, das sind etwa 71 Prozent, davon haben 80 inhaltlich Stellung genommen. Fast alle Chefredakteur:innen haben ihren eigenen Migrationshintergrund angegeben. Dieser lässt sich zudem aus öffentlich zugänglichen Informationen nachvollziehen.

So haben wir ausgewählt:

  • Wir haben 126 Chefredakteur:innen per E-Mail angeschrieben, die in 122 Redaktionen der reichweitenstärksten regionalen und überregionalen deutschen Medien arbeiten. Dazu gehören:
  • Nachrichtenmagazine und überregionale Zeitungen mit einer Auflage über 60.000 und regionale Zeitungen mit einer Auflage über 80.000 Exemplaren.
  • Journalistische Online-Medien mit mehr als zwanzig Millionen Besuchen im Monat
  • Öffentlich-rechtliche Hörfunk- und Fernsehsender sowie private Fernsehsender, die per Antenne zu empfangen sind.

Die Ergebnisse im Detail:

  • Von den 126 berücksichtigten Chefredakteur:innen haben nur acht einen Migrationshintergrund nach der Definition des Statistischen Bundesamtes. Das heißt, sie selbst oder mindestens ein Elternteil sind nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren worden.
  • Vertreten sind die Nationalitäten österreichisch, luxemburgisch, dänisch, niederländisch, irisch, italienisch, rumänisch und griechisch.
  • Auch die wenigen Chefredakteur:innen mit Migrationshintergrund gehören mehrheitlich zu Einwanderergruppen, die im öffentlichen Diskurs nicht als „fremd“ kodiert werden.
  • Es ist zudem keine einzige Person darunter, die eine außer-europäische Familienherkunft hätte oder eine Person of Color wäre.
  • Die Chefredakteur:innen in deutschen Massenmedien weisen daher für eine Gesellschaft, die sich seit mindestens zwei Jahrzehnten auch offiziell als Einwanderungsland versteht, eine erstaunliche Homogenität auf.
  • Umgekehrt bedeutete das: Sichtbare Minderheiten bleiben dort vollständig außen vor.

 

Fast alle wollen vielfältigere Redaktionen

Ein wichtiger Befund ist aber auch: Die Forderung nach diverser besetzten Redaktionen wird mittlerweile von den meisten befragten Chefredakteur:innen und Redaktionen geteilt. Zwei Drittel derjenigen, die geantwortet haben, unterstützen die entsprechende Resolution des DJV. Ein Teil nimmt eine neutrale Haltung ein, weniger als zehn Prozent lehnen sie ab. Damit gilt in den meisten deutschen Chefredaktionen: Die Arbeit von Journalist:innen aus Einwandererfamilien ist wichtig, einerseits um Diskriminierung zu überwinden, andererseits um ein besseres journalistisches Produkt zu erhalten.

Konkrete Maßnahmen und Strategien zur Gewinnung von Personal mit Einwanderungsgeschichte bleiben aber nach wie vor die Ausnahme. Die meisten Chefredakteur:innen betonen, dass die Qualifikation allein dafür ausschlaggebend sei, ob jemand eingestellt werde oder nicht. Wer gut sei, setze sich auch ohne besondere Maßnahmen der Medienhäuser durch. Obwohl sie interkulturelle Kompetenzen als Pluspunkt anerkennen, suchen sie nicht gezielt nach Mitarbeiter:innen, die diese mitbringen.

Viele Befragte unterstellen, dass mangelndes Können bei Journalist:innen mit Migrationsgeschichte entscheidend sei, wenn es nicht klappt und schließen eine eigene Verantwortung aus. Die seit langem bekannte soziologische Erkenntnis, dass Entscheider:innen meist Menschen einstellen, die ihnen ähnlich sind, wird weitgehend ignoriert. Die Betonung von Qualifikation als einzigem Kriterium schließt jedoch einen professionellen Umgang mit Phänomenen wie "unconscious bias" (unbewusste Vorurteile) aus. Würden allein Eignung und Befähigung über Einstellungen entscheiden, wäre kaum zu erklären, warum Frauen bis vor einigen Jahren keine entscheidenden Rollen in Medienhäusern einnehmen konnten.

 

"Der DJV appelliert an Medienunternehmen, bei der Auswahl ihrer Beschäftigten die gesellschaftliche Vielfalt abzubilden – etwa in Bezug auf Alter, Geschlecht, Ethnizität, soziale Herkunft, sexuelle Orientierung sowie physische und psychische Verfassung."

Appell vom Verbandstag des Deutschen Journalistenverbands DJV, 5. November 2018

Offen für Vielfalt, aber nicht für Maßnahmen

Um beurteilen zu können, wie weit die Öffnung der Redaktionen für Medienschaffende aus Einwandererfamilien gediehen ist, fehlt die Datenbasis. Denn der Anteil der Journalist:innen mit Migrationshintergrund wird nach wie vor nicht systematisch erfasst. Häufig mit Verweis auf den Datenschutz. Wenn die befragten Chefredakteur:innen dazu Angaben machen, dann sind das Schätzungen, die nicht verifiziert werden können. Bei diesen Schätzungen wird oft selbstkritisch eingeräumt, dass der Anteil relativ gering sei.

Ein Widerspruch prägt daher den aktuellen Umgang mit Vielfalt in deutschen Redaktionen: Die Stimmung ist positiv, die Unterstützung für die Forderung nach einer Öffnung der Redaktionen ist größer denn je. Die meisten Chefredakteur:innen sagen, sie wollen mehr dafür tun. Konkrete Zahlen zu erheben und darauf basierende Maßnahmen einzuleiten, lehnen die meisten allerdings ab. Wie aber soll es gelingen, deutsche Redaktionen durch Journalist:innen mit diversen Hintergründen vielfältiger zu gestalten, ohne eine entsprechende Strategie? Viele deutsche Medien werden damit den Anschluss an die Zukunft der deutschen Einwanderungsgesellschaft verlieren.

 

Gezählt wird immer noch nicht – obwohl es geht

Ohne transparente Zahlen zur Diversität in deutschen Redaktionen können weder nachhaltige Veränderungen angestoßen werden, noch lässt sich nachvollziehen, ob Fortschritte erreicht wurden. Die allermeisten Medienunternehmen zeigen aber nach wie vor kein Interesse daran, von sich aus diese Daten zu erheben.

Von 122 befragten Redaktionen haben lediglich 56 auf die Frage geantwortet, ob sie den Anteil der Journalist:innen mit Migrationshintergrund in ihrer Redaktion kennen. Mit einer Ausnahme konnte niemand dazu verlässliche, also systematische Angaben machen. Es findet keine Erhebung statt. Manche der Befragten haben ihn individuell geschätzt. Demnach arbeitet zum Beispiel bei der Märkischen Oderzeitung niemand mit einem Migrationshintergrund in der Redaktion. Beim Kölner Express hingegen seien es etwa 15 Prozent. Für die Gesamtsituation haben diese punktuellen Schätzungen keine Aussagekraft.

Nach wie vor existiert in deutschen Medienhäusern keine Transparenz bezüglich der Diversität der dort arbeitenden Journalist:innen. Dabei zeigen einige Beispiele: Wenn der Wille da ist, dann ist es also durchaus möglich, Diversity-Daten in deutschen Medienunternehmen zu erheben.

So viele Medien erfassen den Migrationshintergrund ihrer Mitarbeiter:innen

Diese Medien erfassen die Vielfalt ihrer Mitarbeiter:innen:

  • Unter den Befragten erfasst einzig die Nachrichtenagentur Thomson Reuters die Staatsangehörigkeiten aller angestellten Journalist:innen und wertet diese für Statistiken zum Thema Diversity aus. Der Anteil derjenigen, die eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen, liegt aktuell bei 31 Prozent. Dies erklärt sich unter anderem dadurch, dass viele Korrespondent:innen von Hause aus mehrsprachig sind. 

  • Der WDR fragt seit 2014 neu eingestellte Mitarbeiter:innen anonym nach ihrer Einwanderungsgeschichte. Nach Auskunft des Senders lag der Anteil neu eingestellter Volontär:innen in den letzten Jahren stets bei über 30 Prozent. Positiv ist auch die Antwortquote der freiwilligen Befragung. Sie liegt bei rund 90 Prozent. 

  • 2013 hat der SWR nach eigenen Angaben einmalig eine anonyme Umfrage zum Migrationshintergrund seiner Belegschaft durchgeführt, an der über 2.000 Mitarbeiter:innen teilnahmen. 19 Prozent gaben an, einen Migrationshintergrund zu besitzen.

 

Vielfalt erwünscht – mehr als eine Floskel?

Manche Chefredakteure, die nach dem eigenen Migrationshintergrund gefragt wurden, antworteten augenzwinkernd, sie hätten auch einen, als „Rheinländer in Schwaben“ zum Beispiel. Wohl wissend, dass das nicht reicht, um die gesellschaftliche Wirklichkeit abzubilden. Sie unterstützen mehrheitlich den Diversity-Appell des Deutschen Journalisten-Verbands. Angesprochen auf diese Resolution, die ihr Berufsverband im November 2018 veröffentlicht hat, antworteten 41 Redaktionen, dass sie das gut finden. Zwanzig positionierten sich neutral dazu und nur vier sind dagegen, sich für eine diverser besetzte Redaktion einzusetzen.

Die Gegner argumentieren immer mit dem Leistungsprinzip. Sie befürchten, dass Gleichstellung auf Kosten der Qualität gehen würde. Problematisch ist dabei die implizite Unterstellung, dass Journalist:innen mit Migrationshintergrund nicht genauso gut qualifiziert sein oder ausgebildet werden können. Ausgeblendet wird dabei auch, dass sie zusätzliche Hürden meistern müssen. Sie überwinden Vorurteile oder studieren, obwohl sie womöglich aus einem nicht-akademischen Haushalt stammen. Diese besonderen Leistungen werden nicht gesehen.

Die Mehrheit unterstützt aber die Aufforderung für mehr Diversität zu sorgen. Das sei „ein wesentlicher Bestandteil unserer Zukunftssicherung“, betont ein Zeitungs-Chef. Ein beträchtlicher Anteil unterstützt die Resolution allerdings nur mit Vorbehalten. Sie wird als eine Aufforderung zur Offenheit verstanden, um Diskriminierung zu vermeiden, aber nicht um bestimmte Gruppen explizit zu fördern.

Nur ein Drittel derjenigen, die geantwortet haben, hat von sich aus angegeben, aktiv etwas zu unternehmen, um den Anteil der Journalist*innen mit Migrationshintergrund in ihren Redaktionen zu erhöhen. Der NDR sagt zum Beispiel, er setze sich im Rahmen einer „freiwilligen Selbstverpflichtung“ für das Thema ein, die Berliner taz habe ihre Ausschreibungen für Stellen und Praktika verändert. „Zeit Online“ habe bezahlte, lange Hospitanzen “für Menschen mit interessanterem Hintergrund“ eingerichtet.

Bewertung der DJV-Resolution „Mehr Vielfalt in Redaktionen“ mit dem Ziel divers besetzter Redaktionen

Fazit: Viel Support, wenig Action

Vielfalt finden mittlerweile viele wichtig und bekennen sich dazu. Der DJV hat einen eindeutigen Appell formuliert, dafür zu sorgen, dass sich das in deutschen Redaktionen besser widergespiegelt. Und es ist erfreulich, dass er auf mehrheitlich positive Resonanz stößt. Zwei Drittel der Chefredaktionen, die sich dazu geäußert haben, unterstützen dieses Ziel ausdrücklich. Umso erstaunlicher, dass bislang wenig Konsequenzen gezogen werden.

Die positive Einstellung zum Thema Vielfalt spiegelt sich in deutschen Chefredaktionen nicht wider. Sie sind eine homogene Enklave. Und in den allermeisten Medienhäusern existiert auch keine Bereitschaft systematisch Daten zu erheben, um die Grundlage für eine Diversity-Strategie zu schaffen. Stattdessen wiederholen Chefredakteur*innen allzu oft das Argument, Mitarbeiter:innen sollten durch die Abfrage ihrer Herkunft nicht diskriminiert werden. Die Folge: Bestehende strukturelle Diskriminierung bleibt unsichtbar und unangetastet.

Der Datenschutz verhindert nicht, dass Medienunternehmen sich ein ehrliches Bild über den Anteil migrantischer Journalist:innen in ihren Redaktionen verschaffen. Sie können anonyme oder auf Freiwilligkeit basierende Befragungen durchführen. In Einzelfällen passiert das schon. Auch wenn die daraus gewonnenen Zahlen nicht hundertprozentig belastbar sind, es ist besser als gar keine Zahlen zu besitzen, wie es heute noch in nahezu allen Medienhäusern der Fall ist.

Konkrete Maßnahmen zur Erhöhung der Vielfalt in deutschen Redaktionen unternimmt nur eine Minderheit der deutschen Massenmedien. Sicher, jeder Leser, jede Leserin, Hörer:in und Zuschauer:in in Deutschland kann bestätigen, dass Journalist:innen mit Migrationshintergrund heutzutage in der deutschen Medienlandschaft präsent sind. Und zwar mehr als in der Vergangenheit. Aber es ist nach wie vor davon auszugehen, dass sie deutlich unterrepräsentiert sind im Vergleich zum Bevölkerungsanteil. Davon gehen auch die Medienhäuser selbst aus – trotz guten Willens tun sie aber wenig oder gar nichts, um das nachhaltig zu ändern. Dabei zeigen einige Vorreiter, wie es geht. Man muss es nur machen.

Wie besser geht: der NdM-Diversity-Guide

Unsere Studie “Viel Wille kein Weg” hat deutlich gezeigt, dass die deutschen Medien beim Thema Diversität im internationalen Vergleich weit hinterherhinken. Damit es nicht dabei bleibt, haben wir 2021 ein umfangreiches Handbuch zum Thema veröffentlicht – die erste Publikation dieser Art, die sich speziell an deutsche Medienhäuser und Redaktionen richtet. 

Der NdM-Diversity-Guide enthält praxisbezogene Anleitungen, Checklisten, Strategien und Argumente für gute Berichterstattung im Einwanderungsland und ebenso für mehr Diversität in den Redaktionen.

Diversty Guide