Deutschland „schafft sich ab”

 

Das Narrativ

Deutschland verändere sich durch Migration so grundlegend, dass das Land nicht wiederzuerkennen sein werde. Insbesondere „die deutsche Kultur“, aber auch der Zugang zu Sozialleistungen für Personen ohne Migrationsgeschichte seien durch Migration bedroht. Grund dafür sei, dass Deutschland bald mehrheitlich von muslimischen Migrant*innen bewohnt sein würde, die zu viele Sozialleistungen in Anspruch nehmen würden.

 

Argumentation

Zurück geht diese Annahme auf die Vorstellung, migrantische Familien, insbesondere muslimische, bekämen mehr Kinder als Familien ohne Migrationsgeschichte. „Deutschen“ Familien hingegen stünden nicht genügend finanzielle Ressourcen zur Verfügung, um mehr Kinder zu bekommen. Demgegenüber würden, so das Narrativ, die migrantischen Familien Sozialleistungen beziehen und hätten daher genügend Geld zur Verfügung.

In Beiträgen, von denen dieses Narrativ lebt, wird ein „kulturfernes“ Bild von Migrant*innen gezeichnet, die die „deutsche Kultur“ beein- trächtigen. Die Vielfalt der kulturellen Hintergründe und Identitäten der Migrant*innen wird in diesem Narrativ oft auf eine unveränder- liche Ferne von der „deutschen Kultur“ reduziert. Das Narrativ folgt dabei der Annahme, dass nur autochthone Deutsche in der Lage seien, eine vermeintliche deutsche Kultur zu bewahren. Mit anderen Worten wird von einer fundamentalen und über Generationen hinweg bestehenden Unvereinbarkeit zwischen migrantischen Gemeinschaften, insbesondere solchen muslimischen Glaubens, und der deutschen Kultur ausgegangen.

 

Keywords, die ein Hinweis auf das Narrativ sein können

‘Deutschland schafft sich ab’ I ‘Thilo Sarrazin: brave man’ I ‘Migrations-Klartext’ I ‘Merz-Revolution’ I ‘Ampel-Ideologie’ I ‘Deutschland-Diagnose’ I ‘Schande für Deutschland’ I ‘Deutschland-Verrat’

 

Gegenargumente

Weder die bisherigen Zahlen zu Geflüchteten noch die Geburtenraten deuten statistisch darauf hin, dass Deutschland in absehbarer Zeit mehrheitlich muslimisch sein wird. Ebenso lässt sich die Annahme, dass Sozialleistungen ein entscheidender Faktor für Flucht und Einwanderung sind, nicht bestätigen.

Die genaue Anzahl der Muslim*innen in Deutschland ist aufgrund fehlender systematischer Erfassung der Religionszugehörigkeit schwer zu bestimmen. Schätzungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für 2019 gehen von etwa 5,3 bis 5,6 Millionen Muslim*innen aus, was einem Anteil von 6,4 bis 6,7 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht.1 Generell gilt: Längst nicht alle Migrant*innen aus mehrheitlich muslimisch geprägten Herkunftsländern bezeichnen sich als Muslim*in.2

Hinsichtlich der Geburtenzahlen in Deutschland existieren keine präzisen Daten zur Religionszugehörigkeit der Mütter in der gesamtdeutschen Geburtenstatistik. Statistisch betrachtet ist es daher schwierig nachzuweisen, dass Musliminnen signifikant mehr Kinder bekommen würden als Deutsche. Laut dem Geburtenbericht des Statistischen Bundesamts von 2022 liegt die Geburtenrate von Frauen ohne deutsche Staatsbürgerschaft seit den 1990er-Jahren über der Geburtenrate von Frauen mit deutscher Staatsbürgerschaft. In der Differenz lässt sich jedoch keine klare Tendenz erkennen.3

Weder die Behauptung, dass Migrant*innen hauptsächlich nach Deutschland kommen, um Sozialleistungen zu erhalten, noch dass Migrant*innen bevorzugt im Sozialsystem behandelt werden, finden eine nachweisbare Bestätigung. Asylsuchende erhalten während ihres Asylverfahrens Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die geringer sind als das Bürgergeld.4 Anerkannte Geflüchtete haben bei Bedürftigkeit die gleichen Ansprüche an Sozialleistungen wie deutsche Staatsangehörige. Eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) von 2023 zeigt zudem, dass 54 Prozent der von 2013 bis 2019 nach Deutschland zugezogenen Geflüchteten, nach sechs Jahren in Deutschland, erwerbstätig sind und 70 Prozent von ihnen eine qualifizierte Tätigkeit ausüben.5 Das widerlegt Vorstellungen von einer ausschließlich auf Sozialleistungen ausgerichteten Einwanderung und betont vielmehr die Integrationsbereitschaft und den Arbeitswillen der Einwander*innen. In dem Narrativ wird eine Unvereinbarkeit von Deutschsein und Muslimischsein hergestellt, die auf eine rassistische Vorstellung von Deutschsein zurückzuführen ist.6

 

Ausführlichere Informationen zu Islam und Muslim*innen  Mediendienst Integration

Ausführlichere Informationen zur Geburtenentwicklung in der migrantischen Bevölkerung 

Handbuch Familiensoziologie

Weitere Faktenchecks zu diesem Thema

Pro Asyl

UNO Flüchtlingshilfe

 


Katrin Pfündel, Anja Stichs und Kerstin Tanis (2021): Muslimisches Leben in Deutschland 2020, S. 9, (zu- letzt aufgerufen am 04.04.2024)

Mediendienst Integration (2024): Islam und Muslime (zuletzt aufgerufen am 04.04.2024)

Statistisches Bundesamt (2024): Statistik der Geburten (zuletzt aufgerufen am 04.04.2024)

Carsten Wolf (2024): Weniger Bargeld für Asylsuchende (zuletzt aufgerufen am 04.04.2024) Bundesministerium der Justiz (o. J.): Asylbewerberleistungsgesetz (zuletztaufgerufen am 04.04.2024)

Herbert Brücker, Philipp Jaschke, Yuliya Kosyakova und Ehsan Vallizadeh (2023): Erwerbstätigkeit und Löhne von Geflüchteten steigen deutlich, S. 1 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2024)

Oliver Decker, Elmar Brähler (2018): Flucht ins Autoritäre, S. 100f., S. 260, S. 248 (zuletzt aufgerufen am 04.04.2024)