Laudatio zur Goldenen Kartoffel 2022 von Ella Schindler:
Alle wissen, wie „die Russen“ so sind: knallharte Jungs, aufgetakelte Tussis, Autokorsos und Wodka. Klingt stereotyp? Willkommen bei der Goldenen Kartoffel!
Seit Wladimir Putin in massivster Form Unheil über die Ukraine bringt, hat die Presse die Russlanddeutschen und andere Gruppen aus den postsowjetischen Ländern wieder im Visier. Viele Journalist*innen berichten über diese Menschen aus den postsowjetischen Ländern auf eine Art und Weise, die oft genug dilettantisch ist und Vorurteile verstärkt. Am Ende der Berichterstattung bleiben vor allem die Bilder von pro-russländischen Auto-Korsos und Menschen mit Putin-T-Shirts im Gedächtnis.
Zugegeben, das Thema ist komplex: Russlanddeutsche, ethnische Russ*innen, Juden und Jüdinnen, russischsprachige Menschen, russischstämmige Menschen, Angehörige anderer Ethnien aus Russland oder anderen postsowjetischen Ländern. Es gibt so viele Begriffe für, so viele kulturelle und geschichtliche Unterscheidungen zwischen den Menschen, die in Deutschland oft lapidar mit „die Russen“ bezeichnet werden. Die Betroffenen wehren sich zunehmend gegen diesen Einheitsbrei in der öffentlichen Wahrnehmung. Zu Recht. Aber wo bleiben die Medien? Unser Urteil: Sie bemühen sich, doch oft genug verschlimmbessern sie das Problem.
Unsere Vermutung für die Gründe dieser oft grottenschlechten Berichterstattung über diese Gruppe: Viele Redaktionen wissen immer noch zu wenig über Menschen aus dem postsowjetischen Raum. Sie haben auch nicht genügend Sensibilität, zu erkennen, mit welchen Bildern und Worten sie Stigmatisierung noch verstärken.
Hier einige Beispiele: Die FAZ fordert in der Überschrift eines Beitrags eine Debatte über Russlanddeutsche, weil es diese angeblich noch nie gab. Und wie wird das Thema bebildert? Mit einem Foto von einer pro-russländischen Demo in – und jetzt Achtung – Libanon. Ja, Libanon!
Die Stuttgarter Zeitung will in ihrem Artikel erklären, welche Gruppen aus den postsowjetischen Ländern es hierzulande gibt, kommt dabei aber selbst durcheinander. „Wie viele Russen leben in Deutschland?“, so lautet der erste Satz des Artikels. Kleiner Tipp, Stuttgarter Zeitung: Wer Russisch spricht, ist nicht automatisch Russ*in.
T-Online verbindet in einer Bildkombo einen russischen Supermarkt mit einem Panzer. In der Überschrift steht: „Russlanddeutsche in Berlin“. Menschen vor dem Mix-Markt in Berlin und Panzer? Ernsthaft? Weil die Leute mit ihren Einkäufen mit dem Panzer nach Hause fahren, oder wie?
Das Redaktionsnetzwerk Deutschland titelt: „,Klein-Moskau‘ in Pforzheim. Russlanddeutsches Leben zwischen Gartenzwerg und ,Aussiedlerbote‘”. Nach dieser Logik müsste die Überschrift für alle Wolfgangs und Manfreds hierzulande heißen: „Deutsches Leben zwischen Lederhose und Bildzeitung”.
Eigentlich könnten wir in diesem Jahr viele Redaktionen mit unserer Goldenen Kartoffel ausstatten. Aber wir haben uns für einen Gewinner entschieden.
Beispielhaft für die unterirdische Berichterstattung über Russlanddeutsche und andere Gruppen aus den postsowjetischen Ländern geht die Goldene Kartoffel in diesem Jahr an den SWR und seine Dokumentation „Russlanddeutsche – unsere fremden Nachbarn? Bilanz einer schwierigen Integration“ (Erstausstrahlung am 13.07.2022 um 20:15 Uhr im SWR Fernsehen). Was den Film von anderen schlechten Berichten unterscheidet: Ihm ist es gelungen, alle – aber wirklich alle – gängigen Klischees über Russlanddeutsche zu vereinen. Gratulation!
Unsere Entscheidung ist der Ausdruck unserer Enttäuschung. Denn an sich sind die Öffentlich-Rechtlichen für uns nach wie vor die Guten mit ihren qualitativ hochwertigen journalistischen Beiträgen. Doch manchmal bleibt es eben nur beim Wollen und so mancher Beitrag fällt dann mal wieder in die Kategorie: „Es war gut gemeint“. Auf die ausgezeichnete SWR-Doku trifft dies zu.
Wir stellen fest: Der gute Wille, das Bemühen um einen differenzierteren Blick auf Russlanddeutsche, ist an vielen Stellen dieser Dokumentation erkennbar. Die Doku ist nicht schrill oder skandalisierend. Nichts erscheint auf den ersten Blick schlimm – sofern man sich nicht selbst zu der Gruppe der Russlanddeutschen zählt oder sich mit der Gruppe intensiv befasst. Alles wirkt normal, seriös und sachlich. Die Vorurteile und Stereotypisierungen, die dieser Film dennoch reproduziert, kommen auf leisen Pfoten daher. Hier ist die Gefahr groß, dass sie von einem breiten Publikum nicht erkannt werden und im Grundrauschen des durchaus solide wirkenden Films als Tatsachen durchgehen. Diese versteckten Vorurteile in seriöser Aufmachung halten wir für gefährlich.
Wo sehen wir die Fallstricke der Doku?
Es fängt schon mit dem ersten Satz des Films an: „Russlanddeutsche. Sie wohnen bei uns. Sie arbeiten bei uns. Aber gehören sie wirklich dazu?“ Die Bilder, die diesen ersten Satz begleiten, zeigen Männer mit russischen Flaggen auf einer Demo. Schon die ersten Filmsequenzen stellen also Russlanddeutsche als die fünfte Kolonne Putins in Deutschland dar. Klar, die Bilder sind echt. Einige Russlanddeutsche haben sich an den Auto-Korsos beteiligt. Aber jede Menge von ihnen schwenkten auch immer wieder ukrainische Flaggen bei den pro-ukrainischen Demos. Warum also gleich zu Beginn diese Extreme? Viele Russlanddeutsche ackern gerne in ihren Gärten und gehen angeln. Wäre das ein guter Einstieg in den Film? Vielleicht, aber es wäre kein Aufreger. Tja, hier eifern die Öffentlich-Rechtlichen den privaten Medien nach. Sehr bedauerlich.
Die Doku bemüht sich um Vielfalt der Stimmen. So gibt es drei russlanddeutsche Frauen als Protagonistinnen zu sehen. Deren Zusammensetzung sollte klassisch sein: das eine Extrem auf der einen, das andere auf der anderen Seite und etwas in der Mitte. Klar, all das gibt es. Aber alle drei Frauen sind auf ihre Weise doch zu sehr Superlativ. Dem Film gelingt es nicht, die breite Masse der Russlanddeutschen abzubilden. Menschen, die einfach täglich als Bürokaufleute, Pflegekräfte oder technische Angestellte zur
Arbeit gehen, die Sport treiben oder Kinder zum Fußballtraining bringen, kommen nicht zu Wort. Stattdessen zeigt der Film eine absolute Überfliegerin, die Journalistin und Podcasterin ist und mit ihren Posts für tausende jüngere Russlanddeutsche eine wichtige Stimme in den Sozialen Medien geworden ist. Die andere – mit pro-russischer Haltung – lebt absolut in „little Russia“ mitten in Deutschland. So zumindest der Eindruck, der im Film erweckt wird. Damit nicht genug: Die Protagonistin geht auch noch in die russisch-orthodoxe Kirche. Das Klischee in den Köpfen so mancher Leute, denen die Russlanddeutschen nie russisch genug sein können, wird perfekt bedient.
Ein Klassiker findet ebenfalls seinen Platz: das Thema „kriminelle Migranten”. Gleich zwei Interviewpartner erzählen im Film, wie brutal die russlanddeutschen Insassen in der JVA Adelsheim waren. Ja, die russlanddeutschen Jungs im Gefängnis waren früher echt knallhart! Das macht der Film schon deutlich. Was der Film nicht liefert, ist die redaktionelle Einordnung der Geschehnisse. Ein perfekter Stoff für die Stärkung des Vorurteils: „Osteuropäische Männer sind ja so brutal! Auch die, die nicht im Gefängnis sitzen.”
Russlanddeutsche und die AfD – auch dieses Thema lässt die Doku nicht aus. Zum Teil verständlich. Schließlich wählen etwa 15 Prozent der Russlanddeutschen diese Partei. Ein paar Prozente mehr als Menschen ohne Einwanderungsgeschichte. Das scheint Grund genug dafür zu sein, gleich zwei russlanddeutsche AfD-Männer zu zeigen. Da hat sich die Partei bestimmt gefreut, so viel Bühne für sich alleine einnehmen zu können. Eine weitere Stimme aus einer anderen Partei gibt es nicht. Dabei wählen 85 Prozent der Russlanddeutschen eben nicht die AfD. Schon wieder wird in der Doku ein verzerrtes Bild von Russlanddeutschen gezeichnet. Bei diesem Beispiel geht es nicht um falsche Behauptungen, sondern um die in unseren Augen falsche journalistische Gewichtung.
Aber die Doku hat auch inhaltliche Fehler. So wird im Film behauptet – suggestiv als Beweis für eine schwierige Integration –, dass nur etwa ein Drittel aller Russlanddeutschen Freund*innen ohne migrantische Bezüge hat. Dabei ist es genau umgekehrt: Nur ein Drittel der Gruppe hat sie nicht. Schlampig gearbeitet, liebe SWR-Kolleg*innen! Aber das habt ihr bereits selbst herausgefunden und in der Doku nachgebessert.
Es gibt noch ein paar weitere Kritikpunkte. Aber allein die, die wir aufgezählt haben, reichen, um festzustellen: Die SWR-Doku mit all ihren Stereotypen liefert ein Bild von Russlanddeutschen, bei dem wohl viele am Ende des Films den Titel bestätigen. Ja, sie bleiben „die fremden Nachbar*innen“. Wir finden es bedenklich und prämieren den SWR für das misslungene journalistische Produkt mit unserer Goldenen Kartoffel.