Seit 2018 verleihen die Neuen deutschen Medienmacher*innen die „Goldene Kartoffel“. Der Preis für besonders unterirdische Berichterstattung geht an Medien oder Journalist*innen, die ein verzerrtes Bild vom Zusammenleben im Einwanderungsland Deutschland zeichnen oder an Sendungen und Formate, die Probleme und Konflikte immer wieder grob überzeichnen, Vorurteile verfestigen und gegen journalistische Standards verstoßen.
Die Goldene Kartoffel 2020 geht an die Berichterstattung über „Clan-Kriminalität” in deutschen Medien und hier stellvertretend an SPIEGEL TV, dessen Berichte über so genannte „Clans” den Jury-Kriterien besonders oft entsprechen. Die Jury begründet ihre Entscheidung so:
Die Berichterstattung über Organisierte Kriminalität in deutschen Medien und insbesondere bei SPIEGEL TV ist unterm Strich verzerrt, stigmatisierend und rassistisch. Der fast ausschließliche Fokus auf „Clans“ erweckt den Anschein, mafiöse Vereinigungen in Deutschland seien vornehmlich arabische Familien oder Rom*nja. Das BKA ordnet aber nur etwa acht Prozent der Verfahren zur Organisierten Kriminalität der so genannten „Clan-Kriminalität“ zu. Andere Formen der Organisierten Kriminalität werden in den Medien jedoch deutlich seltener thematisiert. Folgt man der Berichterstattung von SPIEGEL TV, versinkt Deutschland in Kriminalität, beherrschen „Clans“ ganze Städte und ein schwacher Staat ist dieser Entwicklung hilflos ausgeliefert. Mit der Realität hat das nichts zu tun.
Zudem werden in der Berichterstattung Aussagen von Polizist*innen unkritisch übernommen und die Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden distanzlos begleitet. Der Sinn aufwändiger Razzien in Shisha-Bars – wo oft nur ein paar Kilo unversteuerter Tabak gefunden werden – wird beispielsweise fast nie hinterfragt.
„SPIEGEL TV“ gebührt stellvertretend für viele andere Medien der Preis, weil sie stilprägend sind für das Genre der reißerischen „Clan-Reportage“. Egal ob in Berichten im eigenen Magazin, als Produktionsfirma für andere Sender oder durch geliefertes Bildmaterial für Dritte – der Sound und die Bildsprache von SPIEGEL TV sind unverkennbar. Weitere Nominierte wegen ihrer verzerrten Clan-Berichterstattung sind BILD, RTL, ntv, rbb, ZDF, NZZ, Der Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Die Welt.
Die ausführliche Begründung der Jury findet sich weiter unten.
Ein Disclaimer, nur zur Sicherheit: Natürlich muss über Organisierte Kriminalität berichtet werden und einige Kolleg*innen riskieren dabei viel. Nur muss die Berichterstattung – wie in allen Bereichen – auch hier sachlich, kritisch und faktenreich sein. Die Reportagen über arabische oder Rom*nja-„Clans“ werden diesem Anspruch allerdings oft nicht gerecht.
Zum Preis und zur Jury:
Vorschläge zur Nominierung für den Preis können Mitglieder aus dem bundesweiten Netzwerk der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM) einreichen. Die Jury besteht aus dem ehrenamtlichen Vorstand des Vereins. Sie wählt nach den oben genannten Kriterien die Preisträger*innen aus.
Zur Preisverleihung:
Aufgrund der Pandemie und der Kontaktbeschränkungen wird die „Goldene Kartoffel“ 2020 nicht live verliehen, sondern nur digital bekanntgegeben. Wem eine PM zu trocken ist, oben ist das Video zur Preisverleihung – stilecht aus einer Shisha-Bar.
Vorstand
Neue deutsche Medienmacher:innen
Pressekontakt:
Vermittlung über die NdM-Geschäftsstelle: infoneuemedienmacher.de, 030-269 472-30
Goldene Kartoffel 2020 – Begründung der Jury
Der Medienpreis Goldene Kartoffel 2020 geht an die Berichterstattung über Organisierte Kriminalität in deutschen Medien und insbesondere bei SPIEGEL TV, denn sie ist:
- Verzerrt. Der fast ausschließliche Fokus auf „Clans“ erweckt den Anschein, mafiöse Vereinigungen in Deutschland seien vornehmlich arabische Familien oder Rom*nja. Das BKA ordnet aber nur etwa acht Prozent der Verfahren zur Organisierten Kriminalität der so genannten „Clan-Kriminalität“ zu. Über andere Formen der Organisierten Kriminalität berichten viele Medien jedoch deutlich seltener.
- Distanzlos. Behauptungen und Methoden der Polizei und anderer Behörden werden nicht eingeordnet oder sogar als unbestrittene Fakten übernommen. Der Sinn aufwändiger Razzien in Shisha-Bars ohne nennenswerte Ergebnisse wird kaum hinterfragt.
- Rassistisch. Rassismus kommt in diesen Reportagen meist nur in einer Form vor: als unbegründeter Vorwurf. Die Tatsache, dass Rom*nja und Menschen arabischer Herkunft Rassismus ausgesetzt sind, wird als bloße Schutzbehauptung abgetan, die nur dazu diene, von kriminellem Verhalten abzulenken. Diese Einseitigkeit ist selbst rassistisch.
- Stigmatisierend. Alle Mitglieder einer Familie, die einen verdächtigen Namen tragen, werden in Berichten als Kriminelle abgestempelt. „Shisha-Bars“ werden als verdächtige Orte dargestellt, an denen sich Kriminelle treffen. Beliebige migrantische Restaurants und Geschäfte werden abgefilmt und mit bedrohlichen Kommentaren über „Parallelgesellschaften“ unterlegt. Obwohl die Gewerbetreibenden keinen Bezug zu Kriminalität haben.
- Einseitig. Die immer gleichen Experten geben den Tenor vor; Zwischentöne gibt es kaum.
- Undifferenziert. Ob Auto-Verfolgungsjagden, Tumulte im Krankenhaus, unversteuerter Tabak in Shisha-Bars oder Parken in zweiter Reihe: Unrühmliches Verhalten arabisch-stämmiger Menschen wird oft reflexhaft der „Clan-Kriminalität“ zugeordnet, ohne dass ein Zusammenhang belegt und begründet wird.
- Realitätsfern. Viele „Clan“-Berichte zeichnen ein überbordendes Bedrohungsszenario: Deutschland versinkt in Kriminalität, „Clans“ beherrschen ganze Städte; ein schwacher Staat ist dieser Entwicklung hilflos ausgeliefert und die Bevölkerung lebt in Angst. Mit der Realität hat das nichts zu tun.
- Pauschalisierend. Der Begriff „Clan“ taucht in deutschen Medien fast ausschließlich in Zusammenhang mit arabischen Familien oder mit Rom*nja auf – in Verbindung mit Kriminalität. Andere Familien, die auch geschäftlich miteinander verbunden sind, werden dagegen selten mit diesem Begriff belegt: vom Aldi-Clan, dem Bertelsmann-Clan oder dem Hohenzollern-Clan liest und hört man kaum.
Diese Berichterstattung hat Konsequenzen
Menschen arabischer Herkunft oder Rom*nja sehen sich einem Generalverdacht ausgesetzt – insbesondere, wenn sie einen einschlägigen Namen tragen.
Die Innenminister einiger Länder überbieten sich gegenseitig mit aufwändigen Razzien gegen angebliche „Clan-Kriminalität“. Damit werden auch unbescholtene Bürger*innen, Gastro-nom*innen und ganze Stadtviertel als gefährlich stigmatisiert. Selbst nach dem rechtsextre-men Attentat von Hanau, bei dem Shisha-Bars zu Anschlagsorten wurden und zahlreiche Menschen starben, blieb eine Debatte über die rassistische Markierung dieser Orte aus.
Die Dauerpräsenz krimineller Clans in den Medien hat nicht zur Aufklärung und Abschreckung beigetragen, sondern im Gegenteil zu deren Glorifizierung: „Arabische Clans“ sind zu einem Pop-Phänomen geworden; TV-Serien und Deutschrapper schmücken sich mit Bezügen zu diesen Clans und bedienen damit die Angstlust ihres Publikums. Journalist*innen sollten sich selbstkritisch fragen, welchen Anteil sie an dieser Entwicklung haben.