Wahlberichterstattung braucht ein Umdenken: Statt Politiker*innen müssen Wähler*innen im Fokus stehen.

Wie politischer Journalismus die Demokratie schützen kann. Learnings aus dem transatlantischen Dialog

Bei den Wahlen in Frankreich, in den USA und in den ostdeutschen Bundesländern steht für die pluralistischen Demokratien viel auf dem Spiel. Radikale rechte Parteien gefährden Minderheiten und schüren Misstrauen in demokratische Institutionen und in den Journalismus. Es ist höchste Zeit, dass Redaktionen alte Gewohnheiten und Muster der Wahlberichterstattung auf den Prüfstand stellen. Sommerinterviews, Wahlumfragen und Elefantenrunden sind jedoch allein keine geeigneten Mittel, um über Antidemokrat*innen zu berichten. Denn über Politiker*innen, die das Vertrauen in den Journalismus und die Demokratie zersetzen, lässt sich nicht neutral berichten. Und wenn die Demokratie bedroht wird, ist es keine „normale“ Wahl.

In den USA setzen sich Medienmacher*innen schon seit 2016 intensiv mit diesen Fragen auseinander. Was sie daraus gelernt haben, darüber diskutierten die Journalistin Errin Haines und der Journalismus-Professor Jay Rosen aus den USA mit den deutschen Journalistinnen Hadija Haruna- Oelker und Shakuntala Banerjee bei einer Kooperationsveranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung Washington D.C. und der Neuen deutschen Medienmacher*innen. Aus dem länderübergreifenden Austausch haben wir sieben Hinweise formuliert, wie Wahlberichterstattung gelingen kann.

  1. Neue Fragen stellen: Statt immer nur zu berichten, wer in Umfragen vorne liegt oder welche*r Politiker*in welche Forderung stellt, wie wäre es mal mit Fragen wie: Was steht auf dem Spiel? Für wen? Welche Bevölkerungsgruppe wird in der Politik nicht repräsentiert? Und vor allem: Was will die Wählerschaft hören und besprechen?
  2. Kontext setzen: „Vermeldungsjournalismus“, der lediglich politische Forderungen reproduziert, ist PR und hat keinen journalistischen Mehrwert. Journalismus muss beantworten: Was heißt eine politische Forderung konkret? Ist sie juristisch haltbar? Welche Auswirkungen hat sie auf die Bevölkerung? Und was bedeutet sie für die Demokratie?
  3. Fakten verteidigen: Wenn Fakten verdreht werden, ist es schwer, sie wieder gerade zu biegen. Live-Interviews mit Interviewpartner*innen, die Lügen und Desinformationen verbreiten, brauchen einen exzellenten Live-Faktencheck. Wer den nicht liefern kann, sollte das Live-Interview lieber lassen. Nimmt der Einfluss von Fehl- und Desinformationen zu, wird der öffentliche Diskurs zunehmend geleitet von emotionaler Rhetorik. Folgt das öffentliche Meinungsbild dem Grundsatz „ich glaube, also habe ich recht”, dringt faktenbasierter Journalismus nicht mehr durch.
  4. Dinge beim Namen nennen: Lügen sind Lügen und Rassismus ist Rassismus. Objektiv zu berichten, heißt nicht, menschenfeindliche Aussagen stehen zu lassen oder zu reproduzieren, sondern Menschenfeindlichkeit als solche zu benennen. Rechtsextremes Framing und Wording gehört grundsätzlich in keine Überschrift oder Sendung. Vor allem nicht ohne die entsprechende Einordnung.
  5. Vorsicht vor der „Migrations-Falle“: Journalist*innen sollten sich von rechtspopulistischem Agenda-Setting nicht zu sehr ablenken lassen. Denn wenn jedes Thema „migrantisiert“ wird, gibt es keine Themen mehr außer Migration. Und die Partei, die das Thema am radikalsten vertritt, gewinnt nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern oft auch die Wahlen.
  6. Vertrauen aufbauen statt Clickbaiting betreiben: Populismus und Mediendynamiken passen gut zusammen. Denn Populismus sorgt für Empörung und Empörung für Klicks. Zu einer langfristigen Bindung von Medienrezipient*innen an Medienhäuser führt das jedoch nicht. Viel eher führt Clickbaiting-Journalismus, der sich in der Themensetzung von Rechtspopulismus verleiten lässt, langfristig zu mehr Misstrauen gegenüber den Medien selbst. Denn auch sie sind ein Feindbild derjenigen, die spalten – auch das zeigt der Blick in die USA.
  7. Für die eigene Zielgruppe da sein: Ihre Fragen an Politiker*innen stellen und ihre Geschichten in den Fokus setzen: Das muss Aufgabe von Journalismus sein. Bislang bekommen noch immer die Politiker*innen die meiste mediale Aufmerksamkeit, die am lautesten agitieren. Es fehlt im Journalismus noch immer an kritischem Umgang mit Rechtspopulismus und -radikalismus. Und an den Geschichten derjenigen, die davon besonders betroffen sind. Spätestens seit der EU-Wahl fragen wir uns: Wo bleiben die Perspektiven der marginalisierten Gruppen, die gerade besonders bedroht sind? Demokratischer Journalismus berichtet für alle Teile der Bevölkerung. Und nicht gegen sie.

Die Gefahr für die Pressefreiheit und die Demokratie ist real. Zeit, sich dies bewusst zu machen. Und der demokratischen Verantwortung von Journalismus gerecht zu werden.

Vom länderübergreifenden Austausch können Journalist*innen viel lernen. Mit besonders viel Hoffnung blicken Kolleg*innen aus den USA auf unser öffentlich-rechtliches Rundfunksystem: Welch eine einzigartige Möglichkeit, mit Journalismus die Demokratie zu verteidigen, sagen sie. Das stimmt: Besonders (aber nicht nur) der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk hat die Möglichkeit und den Auftrag, die gesamte Bevölkerung und ihre Themen in den Fokus ihrer Wahlberichterstattung zu setzen. Wir warten nur noch auf die Umsetzung.

Von der Veranstaltung am 24.06.2024 in Kooperation mit der Heinrich Böll Stiftung Washington DC stehen Livestreams auf Englisch und Deutsch zur Verfügung.

 

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