Mit Verärgerung nehmen die Neuen deutschen Medienmacher:innen die Berichte über eine Studie des Kommunikationswissenschaftlers Michael Haller zur Kenntnis, nach der die deutschen Medien in der Berichterstattung über Flucht und Asyl „versagt“ hätten. Indirekt redet Haller all jenen Verschwörungstheoretiker:innen und Rassist:innen das Wort, die der „Lügenpresse“ pauschal vorwerfen, mit den Mächtigen unter einer Decke zu stecken und die Probleme bei der Integration von Geflüchteten und Migrant:innen bewusst zu verschweigen.
So etwa behauptet Haller, die „Mainstream-Medien“ hätten in ihrer Berichterstattung angeblich weitgehend die „Position der Bundesregierung“ übernommen und kritische Stimmen ausgegrenzt. Absurderweise jedoch sind die Ergebnisse seiner Studie, die die Berichterstattung von Februar 2015 bis März 2016 analysiert, weitaus komplexer als Hallers eigene Schlussfolgerung daraus.
Die Studie zeigt beispielsweise auf, dass geflüchtete Menschen als die eigentlichen Betroffenen in den Medien nur wenig zu Wort kamen - genau so wenig wie engagierte Helfer:innen, Nachbar:innen, Vertreter:innen von Willkommensinitiativen oder deren Widersacher:innen. Auch unabhängige Fachleute seien kaum gehört worden; stattdessen hätten die Regierungsparteien den Diskurs dominiert.
Allerdings spiegelte sich die starke gesellschaftliche Spaltung in jener Zeit auch in der Regierungskoalition wieder: in einem Dauerstreit um Grenzkontrollen und „Obergrenzen“. Es stimmt zwar, dass sich z.B. die Bild-Zeitung mit dem Slogan „Refugees Welcome“ anfangs hinter die Kanzlerin stellte; Leitmedien wie der „Spiegel“ und die „Zeit“ dagegen sahen Merkels Politik schon sehr früh sehr skeptisch. Die Bundesregierung reagierte auf diese Stimmungen, indem sie das Asylrecht in kürzester Zeit massiv verschärfte (siehe Asylpaket I und II im Oktober 2015 und Februar 2016).
Breiten Raum in der Studie nimmt eine Analyse des Begriffs der „Willkommenskultur“ ein, der in der Tat für einen Paradigmenwechsel in der deutschen Migrationspolitik steht. Zugleich operiert Haller selbst aber völlig unreflektiert mit Schlagworten des rechten Diskurses: So spricht er von Merkels „Grenzöffnung“ für die Flüchtlinge aus Ungarn, die vielmehr der Verzicht auf eine Schließung der EU-Grenzen war. Ohne jede kritische Reflexion nutzt Haller aufgeladene Schlagworte wie „politische Eliten“, „Mainstreammedien“ und „besorgte Bürger“ - dabei ist Letzteres ein bekannter Euphemismus und verharmlosende Selbstbezeichnung für Rechtsextreme und völkische Nationalisten à la Pegida.
Haller beklagt, dass die Stimmen dieser „besorgten Bürger:innen“ in den Medien zu kurz gekommen seien. Unfreiwillig komisch wird es im Fazit, wo es heißt, die „gewalttätige Szene in den östlichen Bundesländern“ sei „pauschal als Dunkeldeutschland etikettiert und ausgegrenzt“ worden (S. 133). Hätte man sie denn besser als konstruktives Element der Zivilgesellschaft betrachten sollen?
Haller hängt hier einer merkwürdigen Vorstellung von journalistischer „Neutralität“ an, die nicht zwischen rassistischen Gewalttäter:innenn und gesetzestreuen Bürger:innen unterscheiden mag. Aber wie sollen Medien über die Angriffe eines rechten Mobs gegen den Bürgermeister von Tröglitz oder über rassistische Krawalle wie in Heidenau „neutral“ berichten?
Interessanterweise kommt die Studie gar nicht zu dem Befund, dass die Medien überwiegend emphatisch, wohlwollend und aus der Perspektive von geflüchteten Menschen über das Thema berichtet hätten – Hallers Warnrufe und die begleitenden Berichte klingen jedoch anders.
Fazit: Nicht nur Journalist:innen und Medien können voreingenommen und parteilich an ein Thema herangehen, sondern auch vermeintlich „neutrale“ Wissenschaftler:innen bei der Interpretation ihrer eigenen Studienergebnisse.
Neue deutsche Medienmacher:innen e.V.
Vorstand
Nachtrag:
Antwort des Studienleiters Prof. Michael Haller
Am selben Tag erreichte uns per Mail folgende Replik von Michael Haller und der Geschäftsführung der Otto Brenner Stiftung:
An den Vorstand der „Neuen Deutsche Medienmacher:innen“:
Ihren am 21. Juli als “Pressemitteilung“ veröffentlichten Kommentar lesen wir als ein beklemmendes Beispiel dafür, dass es derzeit vielen schwer fällt, die eigenen Überzeugungen, Interessen und Vorurteile zu reflektieren und verständigungsorientiert über das Thema zu sprechen. Ihre Mitteilung verdreht und entstellt den Ansatz wie auch die Befunde der Studie. Beispielsweise feiern Sie solche Ergebnisse der Studie, die Ihnen passen, und verteufeln solche, die Sie nicht mögen. Sie benutzen die Polemik, die man eher von Ihrer Gegenseite kennt: aus dem Zusammenhang gerissen zitieren, Kontexte umdeuten, Motive unterstellen, Tatsachen und Meinungen verquirlen, moralische Empörung aufziehen.
Ihre nachvollziehbare Sorge, dass manche der Befunde der Studie von deutschnationalen Gruppen umgedeutet werden, um daraus Profit zu schlagen, sollte Sie nicht dazu verleiten, genau dasselbe zu tun, in der Absicht, die Studie zu diskreditieren und damit das Lagerdenken zu fördern.
Das einzige, was in diesem vergifteten Meinungsklima hilft, ist der um Aufklärung bemühte Diskurs, der Vorurteile und Ideologien aufweicht und damit die Voraussetzung schafft, dass Fronten abgebaut und Gespräche in Gang gesetzt werden.
Wir wären erleichtert, wenn Sie mit uns dieses Ziel verfolgen wollten. In diesem Sinne bitten die Otto Brenner Stiftung und der Autor der Studie, Prof. M. Haller, diese Entgegnung zu Ihrer „Pressemitteilung“ dazu zu stellen und demselben Kreis bekannt zu geben, an den Ihre PM versandt wurde.
Kontroverse Debatte um Haller-Studie
"Auf dem Prüfstand": Replik von Dr. Christine Horz zur Haller-Studie
Insgesamt hat die Studie der Otto Brenner Stiftung eine breite Kontroverse sowohl in der Medienlandschaft als auch der wissenschaftlichen Welt ausgelöst. So hat sich etwa Dr. Christine Horz, Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin an der Ruhr-Universität Bochum, kritisch mit den Thesen der Studie auseinandergesetzt. Ihr sehr lesenswertes Papier findet sich hier als PDF zum Download.
Dr. Horz ist Mitglied im „Rat für Migration“ und forscht unter anderem zur Teilhabe von Migrant:innen in den Medien sowie zur medialen Berichterstattung über Flucht und Flüchtlinge. Ihr Fazit: "Gerade die Undifferenziertheit der Studie ist eine entscheidende Schwachstelle und führt zu argumentativ ähnlichen Frames des rechten Spektrums, statt die Beobachtungen des empirisch nachgewiesenen Medienversagens (wie die nicht zu Wort kommenden Betroffenen) deutlich zu betonen."
Mehr zum Verlauf der Debatte gibt es beim Rat für Migration.