2020 haben wir eine Umfrage in den reichweitenstärksten Medien in Deutschland gemacht und festgestellt, dass viele Chef:innen Vielfalt wichtig finden, aber in ihrem Haus nichts dafür tun wollen. Grund dafür ist offenbar die Annahme, dass sich das von selbst erledigt. Leider ein Irrtum. Hier möchten wir auf die gängigsten Denkfehler eingehen, die wir rund um das Thema Öffnung der Medien für Menschen aus Einwandererfamilien erlebt haben. 

 

Wer gut ist, setzt sich sowieso durch.

Leider nein. Zwar gibt es gute Beispiele für erfolgreiche Journalist:innen mit Einwanderungsgeschichte, wie Dunja Hayali und Mitri Sirin beim ZDF, Khuê Phạm bei Die Zeit, Özlem Gezer bei DER SPIEGEL, Pinar Atalay und Ingo Zamperoni in der ARD, Aiman Abdallah bei ProSieben und viele mehr. Andererseits zeigt der Umstand, dass sich bekannte Journalist:innen mit Migrationsgeschichte immer noch an ein paar Händen abzählen lassen, dass sie noch die Ausnahme von der Regel sind. In den Redaktionen deutscher Medien arbeiteten laut den letzten repräsentativen Untersuchungen (2009) gerade einmal drei Prozent Medienschaffende mit Migrationshintergrund. Selbst wenn sich die Zahl in der Zwischenzeit verdoppelt oder verdreifacht hätte, läge sie noch weit unter dem gesellschaftlichen Durchschnitt (26 Prozent). Und es gibt weiterhin Redaktionen, in denen keine oder nur ein:e einzige Journalist:in of Color mitwirkt. Warum das so ist, lässt sich am Besten an den nun folgenden Irrtümern ablesen.

Wir würden ja gern, aber es bewirbt sich halt keiner.

Das liegt nicht daran, dass es die Leute nicht gibt. Wenn wir als Neue deutsche Medienmacher*innen für unsere Nachwuchsförderung (Mentoring) ausschreiben, bewerben sich für jeden Jahrgang mehr als hundert angehende Journalist:innen mit Einwanderungsgeschichte. Seit Jahren. Wenn Medienhäuser es nicht schaffen, sie anzusprechen, hat das seine Gründe: 

Ob Migrant oder Deutscher, bei uns alle haben die gleiche Chance. ​​​​​​​

Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit stimmt das nicht. Ob jemand den Weg in den Journalismus findet, entscheidet sich nicht erst im Bewerbungsverfahren. Die Ausschlussmechanismen fangen meist viel früher an.  Es gibt keine standardisierte Ausbildung zum:zur Journalist:in, sondern viele Wege in den Journalismus. Das ist gut. Indem allen der Zugang prinzipiell offen steht und wirklich jede:r sich Journalist:in nennen kann, ist die Presse- und Meinungsfreiheit gewährleistet. Theoretisch.

In der Praxis aber erleichtern gute Kontakte, Netzwerke und starke Seilschaften den Weg in den Journalismus. Statt festgeschriebener Anforderungen, zählt oftmals Vitamin B. Daran mangelt es Interessierten mit Migrationsgeschichte aber fast immer. Die Buddy-Kultur im Journalismus ist weiß, deutsch und bildungsbürgerlich geprägt und den wenigsten Kolleg:innen ist das bewusst.

Gleiche Chancen gibt’s praktisch nicht. Deswegen sind Mentor:innen in der Redaktion besonders für Nachwuchsjournalist:innen von entscheidender Bedeutung, um einen Fuß in die Tür zu kriegen. Und auch später sind eigene Netzwerke, wie das der Neuen deutschen Medienmacher*innen, ein Ort der Unterstützung.

Die wollen doch sowieso alle nur Arzt oder Anwalt werden.

Mit diesem Argument begründen Entscheider:innen häufig den Mangel an Journalist:innen mit Einwanderungsbiografie, wie sich zum Beispiel in einer Untersuchung von Medienhäusern in Nordrhein-Westfalen zeigte. Damit haben sie zum Teil Recht. Entscheidet sich ein junger Mensch aus einer Einwandererfamilie für einen Beruf, fällt die Wahl selten auf Journalismus. Denn die meisten jungen Leute – ob mit Migrationsgeschichte oder ohne – wählen ihren Beruf, weil sie Vorbilder in der Familie oder im Bekanntenkreis haben und von nichts kommt nichts.

Außerdem ist Journalismus kein sicherer Beruf. Nicht alle alle können für eine Karriere in den Medien die nötigen Risiken eingehen. Wer erste Berufserfahrungen sammeln will und als junge:r Freie:r arbeitet, lebt prekär.  Solche unberechenbaren Wege zu gehen, erfordert einiges Selbstvertrauen oder die Zuversicht, dass die Familie im Notfall finanziell aushilft und nicht selbst in Not ist. Wenn diese Rückendeckung fehlt, ist Journalismus eine schlechte Option. Das gilt für Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund.

Migranten sind bei vielen Themen einfach befangen.

In manchen Redaktionen scheint man den Migrationshintergrund für einen Nachteil von Journalist:innen zu halten. Schließlich verzerre die "Migrantenbrille" den neutralen Blick auf die Welt. Während die Attribute „weiß“, „christlich“ oder „heterosexuell“  angeblich keinen Einfluss auf die persönliche Weltsicht haben, gelten PoC, Kopftuchträgerinnen oder Menschen mit Behinderung häufig als Aktivist:innen in eigener Sache. Diese Verwechslung von Neutralität mit Normalität hat absurde Folgen: Große Rundfunkanstalten haben es lange Zeit vermieden Muttersprachler:innen als Chefkorresponden:innen in Auslandsstudios einzusetzen. Statt den Vorteil zu nutzen, dass solche Reporter:innen direkter und näher an Menschen und Geschichten herankommen, misstrauten sie ihrer Professionalität. Gut, dass inzwischen immer mehr Häuser von dieser Praxis abrücken. Würde man so einer Annahme folgen, hätte man auch alle deutschen Journalisten von der Bundespressekonferenz ausschließen und mit migrantischen ersetzen müssen. Spätestens hier verstehen viele, wie albern diese Sichtweise ist. 

Die wollen doch nur über Migrantenthemen und Rassismus schreiben.

Alle Journalist:innen berichten häufig über Themen, mit denen sie sich auskennen, persönliche Erfahrungen gesammelt haben oder für die sie sich interessieren. Aber inter- und subkulturelle Kompetenzen können leider auch zum Stigma werden. Nicht weil lesbische, russlanddeutsche oder jüdische Bewerber:innen nicht neutral wären sind, sondern weil die Entscheider:innen es nicht sind. In diesen Fällen sind es die die Redaktionen selbst, die Journalist:innen in bestimmte Schubladen stecken: Muslim:innen bekommen die Integrationsthemen, Schwule schreiben über LSTBI-Rechte und Schwarze über Rasssismus. Nur weiße, heterosexuelle Deutsche schreiben, worüber sie wollen.

Natürlich gibt es zahlreiche Kolleg:innen mit Einwanderungsgeschichte, die gern über Themen wie Migration, Flucht, Integration oder Diskriminierung berichten. Sie nutzen auch mal  ihre persönlichen Erfahrungen und Zugänge. Aber auch sie müssen sich viel Wissen aneignen und zu Expert:innen werden, genau wie andere Fachjournalist:innen auch. Menschen aus Einwandererfamilien sind nicht qua Geburt Expert:innen für Migration, Integration, Islam, Antisemitismus oder Rassismus oder die Herkunftsländer ihrer Eltern. 

In Deutschland gilt die deutsche Sicht.

Was ist denn diese „deutsche“ Sicht? Die von Horst Seehofer oder die von Claudia Roth? Die der BILD-Zeitung oder die der taz? Mit der vermeintlichen deutschen Sicht verhält es sich ähnlich, wie mit der journalistischen Neutralität. Sie ist eine Illusion, die immer dann hervorgeholt wird, wenn es darum geht, bisherige Privilegien zu verteidigen. Denn natürlich gibt es nicht DIE deutsche Sicht. Schon unter zwei Deutschen gibt es unterschiedliche und sehr konträre Perspektiven. Wir nennen das Meinungsfreiheit. Also warum nicht die Perspektiven von Zugewanderten und Neuen Deutschen ebenfalls als Facetten der Meinungsvielfalt begrüßen und schätzen?

Entlarvend wird es, wenn die „deutsche Sicht“ bedeutet, Migrant:innen, Schwarze Menschen oder Geflüchtete durch die Brille verinnerlichter  Vorurteile zu betrachten. Ist es die deutsche Sicht, dass von Rom:nja quasi nur in Zusammenhang mit Kriminalität und Armut die Rede ist? Ist es die deutsche Sicht, wenn die gleiche Straftat (Ehemann tötet seine Frau) bei alteingesessenen Deutschen als „Familiendrama“ bezeichnet wird, bei muslimischen Migrant:innen und ihren Nachkommen aber als „Ehrenmord“? Als Medien jahrelang würdelos und voller Vorurteile über vermeintliche „Döner-Morde“ berichtet haben, war das auch die deutsche Sicht? Wir hätten lieber darauf verzichtet. 

Ein guter (deutscher) Journalist kann über alles berichten.

Theoretisch, ja. Gute Journalist:innen können sich in Themen einarbeiten und über alles berichten. Und praktisch? Blicken wir nur wenige Jahrzehnte zurück: Da saßen in Redaktionen fast ausschließlich Männer, abgesehen von den Kolleginnen, die die sogenannten „Frauenthemen“ bearbeiten durften: Mode, Rezepte, Familie. Männliche Redakteure konnten Frauenbelange, wie geringere Bezahlung für gleiche Arbeit, getrost ignorieren. Es gab in den Redaktionen keine Frau, die das gestört hätte. Das hat sich zum Glück geändert. Bei der Berichterstattung über eine Vergewaltigung etwa kann es sich kein männlicher Redakteur mehr leisten, die Schuld der Frau zu geben, weil der Rock „zu kurz“ gewesen sei. 

Wenn mehr Geschlechter in den Redaktionen vertreten sind, ergänzen sich die Perspektiven. Das gilt auch für andere Merkmale: Eine ältere Journalistin legt Wert auf andere Dinge als eine jüngere, eine Akademikerin sieht andere Aspekte als ein Nicht-Akademiker und ein Journalist mit Migrationshintergrund hat vermutlich einen anderen Blick auf seine Umwelt als die Kollegin ohne. Ausgewogenheit in der Berichterstattung ist auch eine Frage der Zusammensetzung der Redaktion. Unterschiedliche Lebenserfahrungen und Biografien der Macher:innen erhöhen die Chance für mehr Vielfalt im Journalismus. Da haben alle was davon, denn das Publikum ist schließlich auch divers.

Unser Publikum fühlt sich von Migranten nicht repräsentiert.

Sollte das wirklich stimmen, sollten sie sich fragen, welche Rückschlüsse das auf Ihr Publikum und die eigene inhaltliche Ausrichtung zulässt. Für die allermeisten Medien sprechen die Zahlen allerdings eine andere Sprache. Anstatt überholte Vorstellungen von “unserem Publikum” zur Grundlage von Entscheidungen zu machen, fragt man die Zielgruppen besser selbst. Denn in repräsentativen Umfragen wünschen sich Medienkonsument:innen schon seit Langem eine vielfältigere Besetzung. Einem großen Teil ist es egal und vor allem jüngere Zuschauer:innen sind offen für Journalist:innen aus Einwandererfamilien. Sie wollen das sogar.

Ich kann unseren Hörern keine Moderatoren mit Akzent zumuten.

Warum nicht? Im englischsprachigen Raum ist das durchaus normal, solang man die Leute versteht. Bei uns dagegen nicht. Kolleg:innen mit Akzent, die im deutschen Rundfunk sprechen dürfen, kann man lange suchen. „Ich kenne kaum jemanden in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten“, sagt die Radiojournalistin Vera Block und fügt hinzu: „Ein hörbarer Migrationshintergrund scheint aber seltener ein Problem zu sein, wenn es um Augenzeugenberichte aus der Heimat oder Diaspora geht.“ Ein Blick über den Tellerrand in die USA ergibt ein anderes Bild. Hier sind Akzente im Radio alltäglich, sowohl bei Moderator:innen als auch bei Interviewpartner:innen. Diversity Policies fördern diese Mischung in Medienbetrieben, die möglichst genau der Gesellschaft entsprechen soll. Beim Rundfunk ist das sogar eine Bedingung für die Sendelizenz. Es gibt Auflagen, die eine ethnische Diversität als Vergabekriterium voraussetzen; und das wohlgemerkt bei mehrheitlich privatwirtschaftlich finanzierten Sendern. Sie haben alle keinen Nachteil dadurch und haben deswegen auch keine Reichweite verloren. Es ist einfach normaler Sendebetrieb.

Wir haben schon eine Kollegin mit Migrationshintergrund.

“Bei uns gibt’s schon eine Türkin” oder “wir haben schon jemandem mit ähnlichem Namen” – so lauteten noch in den Nullerjahren Absagen an Journalist:innen aus Einwandererfamilien. Noch nie gehört haben wir: “Ach, schade, aber wir haben schon einen Mann in der Nachrichtenredaktion!” oder “Bei uns gibt’s schon eine Stephanie, versuchen Sie es doch lieber woanders”. Und wie effektiv ist es, wenn in einer rein männlich besetzten Politikredaktion einer Tageszeitung eine einzige Frau mitarbeitet? Wird sie sich dort mit ihren Themen und ihrer Herangehensweise einbringen können oder eher anpassen, ähnlich verhalten, reden und schreiben wie die Kollegen? In der Wissenschaft ist das längst erforscht. Es braucht eine “kritische Masse”,  um Veränderungen zu schaffen. Und diese kritische Masse liegt bei dreißig Prozent. Darum sind lediglich ein oder zwei Journalist:innen mit Migrationshintergrund (oder Behinderung oder queere Kolleg:innen, ...) in einer Redaktion zwar besser als keine:r, aber sie werden eben nicht viel ausrichten können. Sollte Fortschritt und Veränderung gewünscht sein, reicht eine Vorzeige-Person nicht.

Warum sollten Journalisten mit Migrationsgeschichte besser sein?

Sind sie nicht. Nicht besser, nicht objektiver, nicht kompetenter, nicht professioneller. Aber eben auch nicht schlechter. Und sie können etwas mitbringen, das in vielen deutschen Redaktionen sonst niemand hat: Einen neuen Blick, neue Erfahrungen, interkulturelle Kompetenzen und viele neue Perspektiven. Für manche kommt das überraschend, aber Journalist:innen mit Migrationshintergrund sind nicht alle gleich. Sie haben unterschiedliche Expertisen, Erfahrungen, Backgrounds und wer in Deutschland geboren ist, hat vielleicht eine weniger starke Bindung zur Familienherkunft als Kolleg:innen, die selbst eingewandert sind – und nicht mal das ist immer richtig.

Was wirklich für alle stimmt, ist ihr direkter, leichter Zugang zu migrantischen Communitys. Tatsächlich hat so gut wie jede:r Germano-Greca oder Turko-Deutsche, selbst mit noch so rudimentären Kenntnissen der Familiensprache, einen besseren Draht zu seiner Community, als der durchschnittliche, standarddeutsche Journalist. So lassen sich unentdeckte Geschichten finden, neue Themen und andere Blickwinkel einbringen. Außerdem können Journalist:innen, die in ihrem Alltag Rassismus erfahren, meistens besser oder überhaupt erkennen, wenn andere abgewertet oder ausgegrenzt werden. Sie sind nicht immer, aber ziemlich oft diskriminierungssensibel, in ihrer der Berichterstattung und in der Redaktion. Das ist der Unterschied. 

Wissen über “Multikulti” können sich auch meine bisherigen Redakteure aneignen.

Genau, alle können das. Stellen Sie sicher, dass sie es auch tun und unterstützen sie ihre Kolleg:innen dabei! Denn die besten Interviewtechniken nutzen nicht viel, wenn ein:e Journalist:in nie gelernt hat, wie ein Perspektivwechsel geht und welche Transferstrategien funktionieren. Diversity-Skills sind zum großen Teil erlernbar und gehören zum journalistischen Handwerkszeug. Eine Einwanderungserfahrung mag z. B. den Blick für bestimmte Perspektiven schärfen, sie ist aber keine Garantie und schon gar keine Voraussetzung dafür. Genauso notwendig, wie vielfältiges Medienpersonal, ist Aus- und Weiterbildung für professionelle Berichterstattung in einer Einwanderungsgesellschaft. Interkulturelle Kompetenzen sind Qualifikationen wie andere auch, nur gibt es leider wenige Profis im Journalismus, die sie besitzen.

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